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Lebenskunst Titel

 

9.    Die Glückslehre (Eudaimonismus)
        bei Höffe

Liest man Höffes Kapitel über das Glück, dann gewinnt man den Eindruck, es handle sich um einen Glücksverhinderungstext …

Höffe spricht im Titel seines zweiten Teils von „Prinzip Glück: Eudaimonismus“. Lässt sich dies noch bei Aristoteles rechtfertigen, insofern dieser eine objektive Bestimmung der Glückseligkeit macht, ein Glück, das von allen um seiner selbst willen angestrebt werden soll und dem alle anderen Ziele untergeordnet sind, so ist seit der Frühneuzeit Glück immer auch subjektiv bestimmt, weil das Individuum in seiner Subjektivität aufgewertet wurde und es eine viel größere Auswahl von Glücksgütern und mehr Möglichkeiten zum Glück hat. Ist Glück aber immer auch etwas Subjektives – das gilt auch für Höffes Erörterungen -, dann kann Eudämonie kein Prinzip sein. Auch bestimmt Höffe nicht, was er unter dem Prinzip Glückseligkeit meint, es sei denn in solch banalen Sprüchen wie: „Alle Menschen verlangen nach Glück“ (S. 74), ein Spruch, der noch dazu in dieser Allgemeinheit falsch ist. Kant hat zurecht Glückseligkeit als Bestimmungsgrund von Moral abgelehnt – eben weil es aufgrund der Vielfalt von Vorstellungen, was es sei, keine einheitliche Bestimmung, also kein Prinzip, abgeben könne.

Glückseligkeit meint nach Höffe zweierlei: „Strebensglück“ und Glück durch Tugend (zur letzteren siehe unter „Kritik der Tugendlehre“). Strebensglück ist das „Leben“, „das man bewußt und freiwillig vollzieht“ und welches „das Dasein im Ganzen gelingen läßt“ (S. 81). Es ist der „Inbegriff der Befriedigung und Erfüllung“ unserer „Triebe, Bedürfnisse und Leidenschaften, auch Interessen, Wünsche und Sehnsüchte“ (S. 82). Formal sei es mit Aristoteles „das höchste Ziel“, das „nicht außerhalb, sondern im Vollzug liegt“ (S. 83). „Glück liegt im gelungenen Lebensvollzug“ (S. 87). Mit seiner Abgrenzung des Glücksverständnisses von der „Glückshybris im Sehnsuchtsglück“ und der „Glücksperversion“ (S. 87) verweist er bereits hier auf die Notwendigkeit, Glück moralisch einzuschränken. Damit dies Glück möglich wird, kann die Philosophie als Lebenskunst nur „Regeln zweiter Stufe“ (S. 92) anbieten, sie begrenzen die „vier Lebensziele“: Lust, Wohlstand, Macht und Ansehen.

Eine Lebenskunst kann sich aber nicht nur mit solch formalen Bestimmungen und Einteilungen zufriedengeben. Höffes inhaltlichen Bestimmungen, Ratschläge und Maximen sind dann allerdings eher ein Appell, die Glückseligkeit gar nicht so wichtig zu nehmen. „Man halte sich im Werktagsglück für das Sonntagsglück offen!“ (S. 103) Man vermeide eine „Versicherungsmentalität in der Lebensführung“ (S. 103). Höffe warnt vor einer „Gefahr der Unersättlichkeit“ (S. 102). „Der erste Baustein objektiver Lebenskunst richtet sich gegen ein Übermaß an Erwartungen, das notwendigerweise in Enttäuschungen umschlägt.“ (S. 102) Gegen die „Hybris der Glückssuche“ (S. 102) helfe nur, seine Lebensträume „den Schwierigkeiten der Weltlage anzupassen“ (S. 101). Man solle „ein glückliches Leben“ führen, „ohne auf der Insel der Seligen zu leben“ (S.101). Und gegen „ein Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit“ helfe der wieder erneuerte „Glaube an Gott“ (S. 97). Gegen die Gefahr der Unersättlichkeit (pleonexia)“ helfe nur die Erkenntnis: „Das endgültige Heil ist Sache der Gottheit“, „das Göttliche (ist) in gewisser Weise schon in uns“ (S. 102).

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Letztlich läuft alles auf Glück als Bescheidenheit hinaus, auf „Sinndiät“: „Man hoffe auf die große Versöhnung und verstehe trotzdem, mit Entfremdungen zu leben.“ (S. 103) Was die kapitalistische Gesellschaft dem Menschen aufzwingt, wird bei Höffe noch einmal als „Doppelstrategie“ zum Glück verkauft.

Glück, das nicht nur den glücklichen Augenblick meint, der nach Freud aus dem Kontrast zum Leid oder zum Alltag entsteht, oder den glücklichen Zufall, der nicht von uns abhängt, ein Glück also, das eher eine Lebensweise ist, wird in der philosophischen Tradition bestimmt als dauerhafte Übereinstimmung des Individuums mit seiner Vernunft und seiner natürlichen und sozialen Umwelt. „Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt.“ (29) Ein solches Glück, in dem der Mensch Selbstzweck ist und das die frühbürgerliche Gesellschaft zu versprechen schien, ist aber in der etablierten kapitalistischen Gesellschaft nicht möglich.

Nicht nur dass ich als Lohnabhängiger meinen Lebensunterhalt nur verdienen kann, indem ich mich einem fremden Willen unterwerfe und so tendenziell zum bloßen Mittel für andere und anderes werde, auch die materiellen Glücksgüter, für die mein Lohn ausreicht, sind durch die entfremdeten Produktionsverhältnisse geprägt. Erster Zweck der Kapitalproduktion ist nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert, um damit wieder mehr akkumulierbaren Mehrwert zu produzieren. In dieser verselbstständigten Produktion um der Produktion willen ist der Gebrauchswert nur „materielles Substrat, Träger des Tauschwerts“, kein Ding, „das man um seiner selbst willen“ produziert (Marx (30)). Diese Tatsache, die dem kapitalistischen System immanent ist, muss Konsequenzen für das Glück der Menschen haben.

Es werden künstliche Bedürfnisse erzeugt, die mit einer neuen Warenart schnell wieder veralten, sodass der Genuss nicht sich am Gegenstand festmacht, sondern am Akt des Kaufens und am Haben der Dinge, die up to date sind. Die Amüsierwaren sind für den schnellen massenhaften Genuss produziert, können deshalb nicht mit der eigenen ästhetischen Vernunft übereinstimmen und zerstören diese. „Glück reduziert sich vielfach aufs Amusement, die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanischen Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihn von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße“ (Adorno/Horkheimer(31)).

Geistige Produkte sind niemals allein an irgendwelchen Qualitätskriterien ausgerichtet, sondern immer auch mit Ideologie durchsetzt, sodass man kaum Chancen hat, sich dem Verblendungszusammenhang, den sie als Masse der geistigen Waren (Bücher, Fernsehen Bildungseinrichtungen usw.) darstellen, zu entziehen. Die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit, insofern sie Glücksmöglichkeiten enthält, wird durch die Medienkonzerne auf Stereotypen reduziert, da diese einen Wiedererkennungswert haben, der den Verkaufsinteressen der Konzerne entspricht.

Ist das Bewusstsein der meisten Menschen durch die gesellschaftlichen Stereotypen und Ideologeme geprägt, dann entsteht in ihrem Denken ein Widerspruch zwischen den Möglichkeiten einer avancierten Vernunft und den ideologischen Instanzen, der meist dazu führt, dass dieses Denken seinen objektiven Interessen widerspricht, sich selbst als Vernunft zerstört und zum inneren Feind wird. Dies führt zur Zerstörung des Realitätsbewusstseins in Bezug auf die Gesellschaft als Ganze, von deren Bewegung man gleichwohl abhängig bleibt. Rationales Denken, das eigene Selbst nach Aristoteles und Kant, gehört aber notwendig zum menschlichen Glück dazu – soll der Mensch nicht auf seine tierischen Funktionen reduziert werden.

Und selbst der, welcher den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang durchschaut, kann zwar das zweifelhafte Glück des Geistes genießen, aber allein als geistige ist Glückseligkeit nicht denkbar. Ein solch erkennendes Bewusstsein ist glücklich, insofern es erkennt, und zugleich unglücklich, weil das Erkannte im krassen Widerspruch mit seiner Vernunft steht. Nichtsdestotrotz ist das unglückliche Bewusstsein die heute einzig angemessene Gestalt des Bewusstseins, nicht wegen des zweifelhaften individuellen Glücksgefühls des Durchschauens, sondern weil die sozialen Probleme nur lösbar sind, wenn sie erkannt werden.

Glück in der emphatischen Bedeutung, wie es oben definiert wurde, ist in einer kapitalistischen Gesellschaft unmöglich. Bestenfalls provisorisches Glück in den Nischen der Gesellschaft ist möglich – oder im Kampf, in den gelungenen Schritten für eine bessere Gesellschaft. „Solange der alle sozialen Verhältnisse bestimmende gesamtgesellschaftliche Zweck die Mehrwertproduktion ist, kann der Gedanke des wahren Glücks nur in der moralischen Anstrengung aufgehoben sein, diese Verhältnisse, die ihm entgegenstehen, zu beseitigen. Es macht das Dilemma heutigen Glücksstrebens aus, das wie immer auch provisorische Glück in der Gegenwart einer möglichen Glückseligkeit in der Zukunft partiell opfern zu müssen.“ (32)

Höffe dagegen opfert den Gedanken des wahren Glücks, d. h. die nach dem Stand der Produktivkräfte und der avancierten Vernunft gegebenen Möglichkeiten, zugunsten einer Anpassung an das Bestehende, das dauerhaft dieses wahre Glück verhindert.

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10.   Kritik der Tugendlehre

Tugend ist nach Höffe (Aristoteles folgend) eine „positive Spontaneität eigener Art“, die nicht nur eine Disposition ist, sondern die praktisch wird.(S. 126) Sie ist eine „zur Haltung gewordene Fähigkeit und Bereitschaft“, eine „Zweite Natur“ (S. 185), die durch Übung und Gewöhnung erlernt werden muss.

Nach Aristoteles gehören die Tätigkeiten (als Tugenden) zum Glück, die man um ihrer selbst willen ausführt. Das Betrachten der Welt, das kontemplative Denken, das nicht auf Arbeit bzw. das Praktische bezogen ist. Die Betätigung der dianoetischen Tugenden ist Glückseligkeit, weil das begriffliche Denkvermögen und deren an Wahrheit orientierte Betätigung durch die dianoetischen Tugenden (Verstand, Vernunft, Urteilskraft) am meisten der Mensch als Mensch ist, weil sie unser Selbst als Menschen ausmachen, weil diese dianoetischen Tugenden uns von den Tieren unterscheiden und die sinnliche Lust nicht an die Lust der intellektuellen Erkenntnis heranreicht.

Auch wenn darin die elitären Vorstellungen einer von Arbeit befreiten Gruppe von Herrschenden in der antiken Polis zum Ausdruck kommen, wahr daran ist, dass Glück ohne ein Glück des Geistes nicht denkbar ist, will man Glück nicht unterhalb dessen ansiedeln, was dem Menschen möglich ist und in der Antike zeitweise möglich war.

Die ethischen Tugenden jedoch, die auf die menschliche Praxis (das Handeln in der Polis) gehen, werden nur teilweise um ihrer selbst willen betätigt – insofern gehören sie zum Glück -, teilweise aber haben sie Ziele außerhalb ihrer, nämlich die Verbesserung der Polis – insofern gehören sie nicht direkt zur Glückseligkeit, sondern schaffen bestenfalls die Bedingungen für diese. So sagt Aristoteles: „Wir führen Krieg, um den Frieden herbeizuführen oder zu sichern.“ Tapferkeit im Krieg ist aber selbst noch kein Glück, sondern kann dies durch Verwundung oder Tod geradezu vernichten (wie auch Höffe schreibt). Also kann die Betätigung der ethischen Tugenden insgesamt kein Glück sein.

Da Höffe aber den Leser dahin bringen will, in der Betätigung der ethischen Tugenden (Tapferkeit, Freigebigkeit, Gerechtigkeit, Klugheit usw.) selbst Glück zu sehen, reduziert er wieder auch in seinem Tugendteil das Glück. Zwar setzt Höffe Tugend nicht mit dem Glück gleich, wie die Stoa, aber dennoch könnten auch die ethischen Tugenden glücklich machen. Höffe fordert „beim Prinzip Glück tugendhaft“ zu werden (S. 180). „Während der tugendlose Weg leicht in den Abgrund des Scheiterns führt, schützt die Tugend zwar nicht vor jedem Ungemach, mit ihrer Hilfe wird aber das geglückte Leben hochwahrscheinlich.“ (S 177)  Ein Lohnabhängiger, der „Rechtstreue“ wahrt, in Bezug auf seinen Unternehmer „Rücksichtnahme“ praktiziert und „Kooperationsbereitschaft“ zeigt, um sich brav ausbeuten zu lassen, „und als Vollendung sogar Liebe“ (S. 181) für seinen Ausbeuter empfindet, der schädigt nicht nur sich, sondern auch seine Kollegen durch unsolidarisches Verhalten – Höffe nennt das „aufgeklärtes Selbstinteresse“.

Nun könnte man Tugend an moralisch vertretbaren Zielen orientieren, wie z. B. Solidarität unter Kollogen gegen das Kapital. Aber es gibt gewichtige Gründe gegen den Tugendbegriff als solchem. Was ist z. B. mit einem Arbeiter, der SPD-Anhänger ist, der aus Gewohnheit solidarisch mit seiner Partei ist, obwohl sie längst einen neoliberalen Kurs gegen seine Interessen eingeschlagen hat? Seine Tugend der Solidarität wird zum inneren Feind seiner Interessen und Ziele.

Tugend als wesentlicher Teil einer rationalen Moral bestreite ich, nicht aus einer immanenten Aristoteleskritik heraus, sondern weil heute der Begriff der Tugend selbst höchst problematisch ist. In einer weitgehend traditionellen Gesellschaft wie noch in der griechischen Polis zu Aristoteles Zeiten ist dies eine angemessene Moralkonzeption. Einmal erlernte Tugenden konnten das Leben in der Polis für eine gewisse Dauer absichern – jedenfalls für die Angehörigen des Kollektivs der Herrschenden. Eine Tugendlehre ist deshalb immer Ethik, d. h. eingesenkt in die Sittlichkeit der Gesellschaft. Sie kann nicht in Opposition zur sozialen Wirklichkeit stehen wie etwa die Kantische Moralphilosophie (soweit sie nicht Tugendlehre ist). Tugendlehre affirmiert dadurch immer die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und ist deshalb so beliebt bei den konservativen Denkern und Politikern. Da sie aber wie jede Moral und Ethik (Sittlichkeit) bis heute immer eine von antagonistischen sozialen Verhältnissen war und ist, muss sich der Widerspruch der Gesellschaft auch immanent in ihrer Konstruktion zeigen.

Heute, in einer Zeit, in welcher die kapitalistische Produktionsweise ständig nicht nur die Produktionsmittel revolutioniert, sondern auch die Kultur, die Sinnlichkeit durch neue Kulturwaren, die Berufe durch Veränderungen in der Technik (wer hat in seinem Leben nur einen Beruf?), die private Lebensführung durch die geforderte Flexibilität der Arbeitskräfte, die Begegnung mit anderen Kulturen durch den Tourismus usw. – heute ist eine Moral als Tugendlehre problematisch – unabhängig von der konkreten Bestimmung der Tugend.

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Höffe gesteht selbst zu, dass die Gesellschaft unterschiedliche und z. T. widersprechende Anforderungen an das Verhalten stellt. „Allerdings wird von den zuständigen ‚Autoritäten’, etwa den Eltern, Lehrern und Gleichaltrigen, nicht immer dasselbe gelobt.“(S. 130) Diese Erfahrung ist nicht nur eine des persönlichen Umgangs mit diesem oder jenem Individuum oder der Vielfalt des sozialen Umfelds, sondern eine der Struktur der Gesellschaft. In der Gewerkschaft benötige ich andere Tugenden als im Unternehmerverband, bei der Polizei andere denn als Demonstrant. Als jemand, der von seinem Kapital lebt, entwickle ich andere Tugenden als ein Obdachloser, der von seiner Geschäftsbank ruiniert wurde. Und wechselt mein Milieu, mein sozialer Status oder nur die Region, wehe meine Tugenden sind dann zur zweiten Natur geronnen oder nicht mehr zeitgemäß.

Höffe unterscheidet Sekundär- von Primärtugenden (S. 128). Zu den Sekundärtugenden zählen: „Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Fleiß“. Als Bandarbeiter muss ich pünktlich sein, weil sonst das Band stillsteht, wenn einer in der Arbeitskette fehlt. Als Angestellter mit flexibler Arbeitszeit oder als Heimarbeiter am Computer spielt diese Sekundärtugend überhaupt keine Rolle mehr. Im Produktionsbetrieb muss sich sparsam mit dem Material umgehen, als Käufer soll ich meinen Lohn an überflüssige Produkte verschwenden usw. Wenn ich aber eine Tugend nur zeitweise benötige oder einmal in diesem Bereich – im anderen aber nicht, unter anderen Umständen wieder anders, dann sind die Tugenden als Gewöhnung, als zweite Natur, als „’in Fleisch und Blut’“ (S. 130) übergegangene Verhaltensmuster wertlos, überflüssiger Charakterballast für die nächste Stufe der Entwicklung, für die neuen Anforderungen des Kapitals, dem ich meine Arbeitskraft verkaufen muss, wenn ich leben will.

Ebenso gilt diese Kritik für die „Primärtugenden“, als da bei Höffe sind: „Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft oder Gerechtigkeit“, Tugenden, die „zum Menschen als Menschen“ (S. 129) gehören. Wenn ich in der antagonistischen Gesellschaft immer ehrlich bin, werde ich von Abzockern ausgenommen; wenn ich die Tugend der Hilfsbereitschaft mir anerzogen habe, werde ich von anderen ausgenutzt – Höffes Lösung dieses Konflikts, von Fall zu Fall zu entscheiden, zerstört diese Tugenden als Tugenden, sie würden zu zufälligen Verhaltensweisen, die sie als Tugenden nicht sein sollen. Und wenn ich „Gerechtigkeit“ als Tugend wirklich ernst meine, dann müsste ich den großen Diebstahl, der täglich in der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet, die kostenlose Aneignung des Mehrwerts, den die Lohnabhängigen erarbeitet haben, also den Diebstahl durch das Kapital, abschaffen.

Ein Moralkonzept, das auf Tugenden im klassischen Sinn wie bei Höffe basiert, widerspricht der permanenten Kulturrevolution im Kapitalismus und den antagonistischen Verhältnissen, zwei Sachverhalte, die auch die Verhaltensweisen betreffen und die kein einheitliches Verhalten zulassen. Schon Hegel wusste, dass dem „Bewußtsein der Tugend (…) das Gesetz das Wesentliche und die Individualität das Aufzuhebende“ ist (29). Dies widerspricht nicht nur dem Eudämonismus, den Höffe auch will, ein Widerspruch, an dem sich das Buch abarbeitet, sondern muss auch das Individuum zerstören, um dessen Glück es angeblich geht. Wird das „Gesetz“, die Allgemeinheit, die Gesellschaft… als antagonistisch erkannt, dann bedeutet „die eigene Individualität in die Zucht unter das Allgemeine“ (34) zu nehmen, das Individuum widersprüchlichen Tugenden zu unterwerfen oder es zur Schizophrenie zu erziehen. Das „an sich Wahre und Gute“, durch eine von den gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahierende Vernunft bestimmt, steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Substanz der Individuen, in der es verankert werden soll. Will sich das Individuum an der avancierten Vernunft orientieren, dann sind die durch das falsche Allgemeine geprägten Tugenden – und andere funktionieren nicht – das Gegenteil der Vernunft; die zweite Natur wird zum Feind des als wahr Erkannten.

Auch affirmativ funktionieren die Tugenden nicht. Die Höffeschen Tugenden verinnerlicht als zweite Natur werden mir darüber hinaus zum inneren Feind meines stets sich ändernden, gesellschaftlich geprägten Selbst. (Vgl. Ludger Heidbrink, Kritik der Lebenskunst S. 274; und auch unten die Kritik am Positivismus.)

Diese Kritik an einer heutigen Tugendlehre muss jedoch in zwei Aspekten eingeschränkt werden. Diese Kritik betrifft erstens nicht die geistigen oder dianoetischen Tugenden (der rechte Gebrauch von Verstand, Vernunft und Urteilskraft, Klugheit usw.), soweit diese ihrem immanenten Anspruch gemäß betätigt werden und nicht gesellschaftlich blind sind wie bei Höffe. Die Vernunft im Individuum ist lebenswichtig, das Individuum muss die Antagonismen (unauflösbare Widersprüche) der Gesellschaft erkannt haben, wenn es nicht blind in diesen zerquetscht werden will. Hier muss das Individuum auch ein „unglückliches Bewusstsein“ (Hegel) aushalten, d. h. ein Bewusstsein, das die Differenz zwischen dem heute Möglichen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die dieses Mögliche verhindert, obwohl es dringend nötig ist, nicht verdrängen darf.

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Letzte Aktualisierung:  08.09.2008